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Rennbahn Oerlikon

Ende des 19. Jahrhunderts tritt das Fahrrad seinen Siegeszug an, und überall werden Velorennen durchgeführt, die sich wachsender Beliebtheit erfreuen. Die Wettbewerbe werden auf der Strasse, aber auch auf ovalen Rennbahnen durchgeführt. Die Schweiz, vor allem Zürich, hat in dieser Anfangszeit die Nase weit vorn. Schon um 1900 steht Velobegeisterten in der Hardau eine Naturbahn zur Verfügung. Als dieses Gelände in eine Kiesgrube umgewandelt wird, beschliesst ein Kreis wohlhabener Geschäftsleute den Bau einer neuen Bahn bei Oerlikon.

Internationale Austrahlung

Im August 1912 wird die offene Rennbahn nach fünfmonatiger Bauzeit eröffnet. Der Umfang des Beton-Ovals beträgt 333,3 Meter. Die Rennbahn, eine architektonische Schönheit, ist bald Schauplatz sportlicher Ereignisse von internationaler Ausstrahlung. Hier werden sieben Bahn-Radweltmeisterschaften ausgetragen, mehr als im berühmten und inzwischen abgerissenen Vélodrome d’Hiver in Paris. In den Vierziger- und Fünfzigerjahren sind Oscar Plattner, Ferdy Kübler, Hugo Koblet und Walter Bucher die Stars auf der Bahn und lösen eine wahre Rad-Euphorie aus. Mit Robert Dill-Bundi, Urs Freuler, Max Hürzeler, Kurt Betschart, Bruno Risi, Alexander Aeschbach und Franco Marvulli haben sie würdige Nachfolger.
Die offene Rennbahn hat einen schweren Nachteil: Sobald es regnet, erhöht sich in den Steilkurven von über 40 Grad Neigung die Absturzgefahr dramatisch. Beginnt es vom Himmel zu tröpfeln, muss das Rennen augenblicklich abgebrochen werden. Mit der Zunahme von Professionalität und finanziellen Verpflichtungen ist es im modernen Sportbetrieb nicht mehr möglich, sich von Petrus in den Veranstaltungskalender pfuschen zu lassen. 1939 wird mit dem Bau des Hallensta­dions samt gedeckter Rennbahn in Oerlikon eine zweite Pionierleistung vollbracht. Für den Vorgängerbau brechen weniger ruhmreiche, schwierige Zeiten an – im Schatten des wettersicheren Hallenstadions, das im Gegensatz zur offenen Bahn nicht ausschliesslich vom Rennbetrieb leben muss. Im Lauf der Jahrzehnte vermindert sich die Attraktivität des spektakulären Bahnrennsports – sei es draussen oder drinnen – im Geschmack der Zeitgenossen. Sport verfolgen sie zu Hause am Fernsehen, und seit der Abschaffung der Polizeistunde muss man für die Freinacht nicht mehr nach Oerlikon zum Sechstagerennen fahren.
Oft wechselt der Besitzer des Beton-Ovals; es wird an Spekulanten veräussert, schlingert hin und her zwischen Erfolg und Pleite. 1951 übernimmt die Stadt Zürich das Kind und weiss nicht, was sie mit ihm anfangen soll. In den Stadtregierungen mangelt es regelmässig an Magistraten, die einen Draht zum Radsport haben, und so denken sie über Pläne nach, die offene Rennbahn zu einem Eishockeystadion umzubauen, sie in einen polysportiven Komplex zu integrieren oder einfach abzureissen. Doch die Bausubstanz wird Jahr für Jahr von den zuständigen Beamten für solide befunden, immer wieder wird die Betriebsbewilligung verlängert. Die anscheinend in höchsten Regierungskreisen kursierenden Gerüchte von Einsturzgefahr erweisen sich als haltlos.

Gesellschaftliche Ereignisse

Solide ist also der Beton, und solide hält sich seit 2002 ein Trupp Unverdrossener, die dem Bahnradsport am geschichtsträchtigen Ort nicht nur die Treue halten, sondern auch bereit sind, zu ihrer Erhaltung Fronarbeit zu leisten. Der Trupp heisst IGOR (Interessengemeinschaft offene Rennbahn), und er verteidigt nicht bloss ein Relikt aus der Vergangenheit, sondern stösst ein Fenster auf zur Zukunft. Seit 2003 organisiert die IGOR von Anfang Mai bis Ende September jeden Dienstagabend Rennen. Zu den Abendrennen, bei denen man die verschiedenen Bahn-Disziplinen kennenlernen kann, pilgern jeden Dienstag 600 bis 800 Fans, Tendenz steigend. Die Dienstag- und Donnerstagabende auf der Rennbahn und im Rennbahnstübli mit dem kleinen Gartenrestaurant stehen kurz davor, Kultstatus zu erlangen. Geschickt versteht es die IGOR, mit ihrem Club Freunde der offenen Rennbahn das Sportliche mit dem Geselligen zu verbinden und sich so eine Lobby zu schaffen, welche die Rennbahn dringend braucht. Dabei verfährt man nicht puristisch, sondern lässt auch Militärräder, historische Rennautos, Inlineskater und Harley-Davidsons ihre Runden drehen. Neben den spektakulären Steherrennen sind es just die motorsportlichen Veranstaltungen, die am meisten Publikum ins Velodrom locken.
Die Rennbahn ist mehr als eine Sportstätte (übrigens die älteste der Schweiz, die nach wie vor genutzt wird), sondern auch ein architektonisches Unikum. Sie ist Zeitzeugin, sie steht für eine bestimmte, eine einzigartige, reiche Kultur, die erst jetzt aufgearbeitet und 2012, zum 100-Jahre-Jubiläum, in Buchform vorgelegt wurde. Eben jetzt ist ihr auch von der Stadt Zürich eine Verschnaufpause gegönnt worden: Die geplante Arealüberbauung mit einer polysportiven Halle wurde aus Finanzgründen verschoben. Noch lieber wäre es IGOR-Präsident Alois Iten, wenn die Stadt auf den Abriss ganz verzichten würde.

Spitzensport und Schnuppertraining

Der Schweizer Radsportverband Swiss Cycling hat den Wert der offenen Rennbahn längst erkannt. Die Radtrainer sind überzeugt, dass eine komplette Rennfahrerin, ein starker Radsportler sich auf der Bahn genauso zu Hause fühlen muss wie auf der Strasse. Deshalb wird im Winter in Aigle und im Sommer in Oerlikon übers Jahr intensiv trainiert, und ohne diese Möglichkeit wären die internationalen Erfolge der Schweizer Bahnfahrer nicht denkbar.
Ganz gewöhnliche Gümmeler müssen aber nicht bloss in Bewunderung der Bahnstars verharren. Sie können – leidliche Fahrkünste auf dem Rennvelo vorausgesetzt – ein Bahnvelo mieten, nach einem Schnupperkurs die ersten Runden drehen und eine neue, ovale Radwelt entdecken.

Text: Velojournal
Fotos: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

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